Cover
Titel
Materialfluss. Eine Geschichte der Logistik an den Orten ihres Stillstands


Autor(en)
Dommann, Monika
Erschienen
Frankfurt am Main 2023: S. Fischer
Anzahl Seiten
287 S., 46 Abb.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Mauch, Department of Science, Technology and Society (STS), Technische Universität München

Angesichts einer Gegenwart, in der Paketdrohnen womöglich bald bis zur eigenen Haustür liefern und Transportketten nicht selten den gesamten Globus umspannen, stellt sich Monika Dommann eine vermeintlich simple Frage: Wie konnte es so weit kommen? Welche Geschichte steckt hinter den gigantischen, scheinbar immer schneller und weiträumiger kursierenden „Materialflüssen“ heutiger Globalisierungsschübe (S. 24)? Und wie lässt sich Logistik – jenes Zauberwort, das die genannten Phänomene wie kein zweites auf den begrifflichen Nenner zu bringen scheint – historisch untersuchen?

Die Studie begnügt sich nicht mit einfachen Antworten. Schon die Eingangssequenz eröffnet ein semantisch mehrdeutiges Feld. Der anglisierte Fachjargon, den Wirtschaftswissenschaften und Militärhandbücher seit dem 19. Jahrhundert pflegen, schöpft jedenfalls aus dem Vollen. „Just in Time“, „Supply Chain Management“ und „Over-all-Efficiency“ sind zum Standardvokabular eines öffentlichen Diskurses avanciert, der sich laut Dommanns genealogischen Recherchen aus der wirkmächtigen Fantasie „einer koordinierten, steuerbaren, geplanten Bewegung“ von Ausrüstung, Gütern und Informationen speist (S. 21). Sehr zum Leidwesen der Autorin prägen derartige Vorstellungen eines ungehinderten Strömens und Fließens mitunter auch die Fachdebatten der Globalgeschichte. Und tatsächlich dürften sich kaum andere Konzeptbegriffe finden, die methodisch so überstrapaziert sind wie die Allgemeinplätze von „Zirkulation“ und „Flow“.1 Aber kann ausgerechnet der Logistikbegriff Abhilfe schaffen?

Nun, der Zürcher Historikerin geht es weniger um das Wort als vielmehr um die Praktiken dahinter. Eine nachvollziehbare Entscheidung – mangelt es dem Untersuchungsgegenstand doch weder an opulenten Begriffsdefinitionen noch an assoziativen Bedeutungszuschreibungen. Von konkreten Arbeitsweisen, den diskreten Akteuren und hochkomplexen Organisationsprinzipien logistischer Lieferketten weiß die historische Forschung bislang hingegen nur wenig zu berichten. Um diese Lücke zu schließen, greift Dommann zu einem „epistemischen Trick“ (S. 25). Schon der Buchtitel verrät, wo ihre Version der Geschichte spielt: an ebenjenen Orten, an denen der Materialfluss zum Stillstand kommt. Entgegen unserem Alltagsverständnis sei nämlich nicht die Beschleunigung aller Warenströme, sondern gerade ihre temporäre Unterbrechung das eigentliche Movens eines auf Effizienz gedrillten Güterumschlags. Warenlager, Verteilzentren und Lieferdepots sorgen für einen „Halt, der notwendig ist, damit etwas ankommt“.2 Denn: „Das Stapeln ist die Kehrseite des Fließens“ – so hat es Jürgen Osterhammel in seiner Rezension prägnant ausgedrückt.3

Aus dieser Perspektive ergibt sich der empirische Zuschnitt des Buches. Seinen argumentativen Kern bilden vier Kapitel, die der Autorin zufolge in beliebiger Reihenfolge gelesen und zu einer Entdeckungsreise durch Zeit-Räume und Kulturtechniken logistischer Praxis genutzt werden können. Ausgewählte Theorieansätze der Science and Technology Studies sowie der Bild-, Film- und Medienwissenschaften, die Dommann zu einer „Follow-the-Movement-Heuristik“ (S. 30) bündelt, stellen den Blick auf das Quellenkorpus scharf. In Wirtschaftsarchiven, Warenkatalogen und Werbebroschüren werden souverän die grundlegenden Wissensbestände, kritischen Infrastrukturen, technologischen Skripte und „anonymen“ Aktanten identifiziert, die im Hintergrund die Fäden ziehen (S. 29).4 Hochregale, Frachtbriefe und die Europalette bekommen ebenso ihren verdienten Auftritt wie Post-its, DIN-Normen oder die Kanban-Karten im Lager der Motomachi-Fabrik in Toyota. Neben den altbekannten Geistesgrößen Friedrich Engels und John Maynard Keynes bereichern der Spieltheoretiker Oskar Morgenstern, der Betontüftler Robert Maillart oder der Kaizen-Ingenieur Taiichi Ōno das Tableau, dessen Erzählbogen von den Zollfreilagern der Ersten Globalisierung bis zur Gegenwart des im Suezkanal havarierten Containerschiffs Ever Given reicht. Die Bandbreite an überraschenden Einsichten, unerwarteten Querverweisen und kurzweiligen Episoden ist beachtlich – dies spiegelt die große konzeptuelle Stärke der Studie wider. Wenn Dommann die transporttechnischen Kosten-Nutzen-Überlegungen hinter der „Plastikhaut“ einer Tetra-Verpackung enthüllt (S. 164) oder die vielsagende Paradoxie offenlegt, dass die DDR im Jahr 1964 dem Europäischen Palettenpool beitrat, sprich „den länderüberschreitenden Warenfluss beförderte, während sie gleichzeitig die grenzüberschreitende Mobilität ihrer Bürger:innen unterband“ (S. 108f.), kann man der Autorin nur beipflichten: Im Fokus auf das scheinbar Marginale werden ökonomische Ursachen und politische Effekte logistischer Geschichte(n) in ihrer ganzen Tragweite überhaupt erst kenntlich.

Allerdings tendiert die bunte Materialauswahl auch dazu, das Narrativ einer fortschreitenden Modernisierung zu bedienen. Quellenbestände und Fallbeispiele stützen in erster Linie die Binnenwahrnehmung der Logistikbranche. Dadurch wird das Zusammenspiel staatlicher und privatwirtschaftlicher Interessen ebenso plastisch nachvollziehbar wie die ineinander verschachtelten Kooperations- und Organisationsformen grenzüberschreitender Güterströme. Umso mehr vermisst der Leser jedoch einen Kontrapunkt. Die „namenlosen blinden Passagiere“, denen das Buch ganz am Ende gewidmet ist, und die sozialen Kosten der Logistik klingen vereinzelt an (S. 219), aber sie bleiben amorph und weitestgehend ungenannt. Staplerfahrer, Lageristen, Paketzusteller kommen kaum zu Wort, Fluchtbewegungen und die Logistiken der Migration (sowie ihrer Abwehr) bleiben außen vor. Auch über die Belastungsstörungen, die bestimmte Lieferketten in Städten, Ökosystemen und Gesellschaften des Globalen Südens hinterlassen, erfährt man nur wenig. Das ist aufgrund des gewählten Themenzuschnitts verständlich. Und doch wäre es spannend gewesen, eine basale Ambivalenz deutlicher zu betonen: Einerseits operiert Logistik mit dem Ziel, Raum und Zeit kalkulierbar und damit auch kontrollierbar zu machen, andererseits ist ihre Praxis nur vor dem Hintergrund von Differenz und Fragmentierung denkbar. Aufgabe der Logistik ist es gerade nicht, bestehende Ungleichheiten zu nivellieren, sondern komparative Kostenvorteile produktiv miteinander zu verzahnen.5 Neue Grenzziehungen und Ausschlüsse gehören durchaus zum Geschäftsmodell. Einer Geschichte des Materialflusses stände es deshalb gut zu Gesicht, auch Fragen nach (post-)kolonialen Abhängigkeitsverhältnissen sowie nach der Aneignung, Umnutzung oder Überwindung logistischer Infrastrukturregime und Disziplinierungstechniken zu stellen. Aus diesen Momenten des Stillstands ließe sich ebenfalls vieles lernen.

Doch das sind allenfalls Ergänzungsvorschläge. Die Gesamtperformance dieses thesen- und kenntnisdichten Buches schmälern sie kaum. Monika Dommann bietet eine enorm anregende, flüssig geschriebene, gleichzeitig an diverse Fachdebatten anknüpfende (und diese herausfordernde) Geschichte der Logistik, deren Pioniercharakter zu weiteren Forschungen auffordert.6 Solide methodische und konzeptuelle Grundlagen sind jedenfalls gelegt. Man mag anderen heuristischen Wegen folgen, aber wer über globalisierte Warenströme, Wertschöpfungsketten und Bewegungsmuster jenseits der handelsüblichen Klischees nachdenken möchte, der kommt an diesem Buch kaum vorbei. Nicht nur historisch Interessierten sei es deshalb wärmstens empfohlen.

Anmerkungen:
1 Was die Globalgeschichte freilich längst selbst erkannt hat. Siehe u.a. Stefanie Gänger, Circulation. Reflections on Circularity, Entity, and Liquidity in the Language of Global History, in: Journal of Global History 12 (2017), S. 303–318; Roland Wenzlhuemer u.a., Forum Global Dis:connections, in: Journal of Modern European History 21 (2023), S. 2–33, https://doi.org/10.1177/16118944221148939 (25.09.2023).
2 Bernhard Siegert, Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post, 1751–1913, Berlin 1993, S. 15.
3 Jürgen Osterhammel, Wofür steht eigentlich DIN 55402?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.05.2023, S. 10, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/monika-dommann-schreibt-ueber-transport-und-geschichte-der-logistik-18921195.html (25.09.2023).
4 Mehrfach gewürdigter Stichwortgeber an dieser Stelle: Sigfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt am Main 1982; siehe dazu Monika Dommann, Mit dem Fließband zum Fortschritt? „M.T.C.“: Sigfried Giedions visuelle Historiographie der Mechanisierung in den USA, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 17 (2020), S. 190–200, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2020/5831 (25.09.2023).
5 Für dieses Logistikverständnis aus Perspektive der Kritischen Geographie vgl. Julian Stenmanns, Die räumliche Logik der Infrastruktur zwischen Afrika und Europa, in: ARCH+ 239 (2020), S. 184–191, https://archplus.net/download/artikel/5206/ (25.09.2023). Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing formuliert gar die These von einem „Lieferkettenkapitalismus“, in: dies., Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk Höfer, Berlin 2018.
6 Neben zahlreichen eigenen Aufsätzen zum Thema, aus denen der aktuelle Band hervorgeht, verweist die Autorin auch zu Recht auf die wichtigen Vorarbeiten Gabriele Schabachers, etwa dies., Raum-Zeit-Regime. Logistikgeschichte als Wissenszirkulation zwischen Medien, Verkehr und Ökonomie, in: Lorenz Engell / Bernhard Siegert / Joseph Vogl (Hrsg.), Agenten und Agenturen (Archiv für Mediengeschichte 8), Paderborn 2008, S. 135–148.